A. Text
Mahatma Gandhi: Der Weg der Gewaltlosigkeita)
a) auszugsweise aus: Gandhi, Mahatma, Freiheit ohne Gewalt, Köln 1968. S. 152 ff.
Zitiert nach: Menne, Erwin, Einladung zur Philosophie, Reihe: Philosophisches Kolleg,
Arbeitsmaterialien für den Philosophieunterricht, Sekundarstufe II. Bd. 2.
Düsseldorf 1976, S. 85-86
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Gewaltlosigkeit ist nicht ein Deckmantel für Feigheit, sondern die höchste Tugend
des Tapferen. Ausübung von Gewaltlosigkeit erfordert weit größeren Mut als den
des Kämpfers. Feigheit und Gewaltlosigkeit passen nicht zusammen. Ein Übergang
von Gewalttätigkeit zu Gewaltlosigkeit ist möglich und manchmal sogar leicht.
Gewaltlosigkeit setzt die Fähigkeiten zum Zuschlagen voraus. Sie ist eine bewusste
und überlegte Zurückhaltung, die dem Rachegelüst auferlegt wird. Aber Rache ist
einer passiven, weibischen und hilflosen Unterwürfigkeit überlegen. Verzeihung
steht noch höher. Rachsucht ist auch Schwäche. Das Verlangen nach Rache entspringt
der Furcht vor Schaden, ob dieser nun wirklich oder nur eingebildet ist. Ein
Hund bellt und beißt, wenn er sich fürchtet. Ein Mensch, der niemanden auf der
Welt fürchtet, würde es als zu beschwerlich ansehen, sich über jemanden zu ärgern,
der sich erfolglos bemüht, ihn zu schädigen. Die Sonne rächt sich nicht an kleinen
Kindern, die ihr Schmutz entgegenwerfen. Sie schaden sich nur selber. (...)
Geradeso wie man die Kunst des Tötens lernen muss im Training für Gewalttätigkeit,
so muss man die Kunst des Sterbens lernen im Training für Gewaltlosigkeit.
Gewalt heißt nicht Freisein von Furcht, sondern nur das Finden von Mitteln, die
Ursache der Furcht zu bekämpfen. Die Gewaltlosigkeit kennt keine Ursache für
Furcht. Der Anhänger der Gewaltlosigkeit muss die Fähigkeit der Bereitschaft zum
letzten Opfer kultivieren, um von Furcht frei zu sein. Er macht sich keine Sorgen
um sein Land, seinen Besitz oder sein eigenes Leben. Wer nicht alle Furcht überwunden
hat, kann ahimsab) nicht vollkommen ausüben. Der Anhänger von ahimsa
kennt nur eine Furcht – nämlich die Furcht Gottes. Wer seine Zuflucht zu Gott
nimmt, hat die Idee, dass der atmanc) den Körper übersteigt; sobald man um einen
unvergänglichen atman weiß, legt man die Liebe zum sterblichen Körper ab. Training
der Gewaltlosigkeit ist darum dem Training in Gewalttätigkeit diametral entgegengesetzt.
Gewalt ist nötig zum Schutz von äußeren Dingen, Gewaltlosigkeit ist
nötig zum Schutz des atman, zum Schutz seiner Ehre.
b) ahimsa: indischer Begriff für das Verbot der Tötung jeglicher Lebewesen, bei Gandhi das
Prinzip der Gewaltlosigkeit
c) atman: indischer Seelenbegriff, Hauch, verwandt mit dem deutschen atmen
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B. Aufgaben
1. Arbeiten Sie Gandhis Konzeption der Gewaltlosigkeit auf der Grundlage des
vorliegenden Textes heraus und gehen Sie dabei auch auf das Menschen- und
Gottesbild ein, das dem Text zugrunde liegt.
2. Stellen Sie auf der Grundlage von Matthäus 5, 38–48 in zusammenhängender
Weise die Auffassung Jesu von Gewaltlosigkeit und Feindesliebe dar. Gehen
Sie dabei auch auf die von Jesus genannten Beispiele, die Begründung für die
Haltung der Feindesliebe, ein. Erläutern Sie anschließend das dahinter stehende
Gottes- und Menschenbild Jesu.
3. Vergleichen Sie Gandhis Konzeption von Gewaltlosigkeit mit der des historischen
Jesus und nehmen Sie zu Gandhis Auffassungen kritisch Stellung.